Folge 3: Warum von Ungeheuern erzählen?

Shownotes

In der letzten Folge haben wir versucht, unsere Begriffe zu klären und die Herkunft der Worte ,Ungeheuer‘, ,Monster‘ und ,Dämon‘ zu ergründen. Heute wollen wir grundsätzlicher fragen: Was sind Ungeheuer eigentlich? Gibt es sie überhaupt – und wenn ja, in welchem Sinn? Warum erzählen wir Geschichten von Ungeheuern? Welche Funktion und Bedeutung haben sie für den Menschen? Und was sagen die Monster, denen wir im Rollenspiel begegnen, über unser Verständnis der Wirklichkeit aus?

Nach ein paar theoretischen Überlegungen unter Bezug auf die Kulturtheorie Hans Blumenbergs berichtet Kathrin von ihren praktischen Erfahrungen als therapeutische Spielleiterin für Kinder und Jugendliche und deren eigentümlichem Umgang mit Monstern. Zum Schluss stellen wir - dank der kundigen Tipps unserer Hörer! - drei Indie-RPGs vor, in denen Ungeheuer eine tragende Rolle spielen und auf originelle Weise inszeniert werden. Viel Spaß beim Hören!

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Kapitelmarken:

00:00 Willkommen!

01:18 Warum von Ungeheuern erzählen?

02:08 Zwei Verständnisweisen

06:47 Ursprünglicher Schrecken

08:41 Kultur als Selbstbehauptung

11:18 Götter- und Heldengeschichten

13:15 Phantastisch das Dunkel überwinden

15:44 Die Rolle der Ungeheuer

18:16 Zusammenfassung

21:07 Monster in Zeiten der Aufklärung?

23:15 Monster im Rollenspiel

24:20 Unbegreiflichkeit

26:27 Beispiele und Anwendungstipps

31:56 Unmenschlichkeit

34:52 Beispiele und Anwendungstipps

39:00 Welche Monster – welche Ängste?

39:53 Indie-RPG-Tipps von Hörer:innen

40:52 Belly of the Beast

42:52 Lorn Song of the Bachelor

44:13 The Clay that Woke

46:16 Ausblick und Verabschiedung

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Wer sich für Hans Blumenberg und seine Kulturtheorie interessiert, dem seien zum Einstieg folgende Darstellungen empfohlen:

Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Junius: Hamburg (5. Aufl.) 2020. Ders./Hermann Timm (Hrsg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Suhrkamp: Berlin (3. Aufl.) 2016.

Die Überlegungen im Podcast basieren vor allem auf: Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Suhrkamp: Berlin (7. Aufl.) 2021 [Erstveröffentlichung 1979]. Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Auswahl und Nachwort v. Anselm Haverkamp, Suhrkamp: Berlin (6. Aufl.) 2021.

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Fragen, Kommentare, Anregungen? Lob oder Kritik? Schreibt uns einfach!

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Ihr wollt die vernünftigen Ungeheuer unterstützen? Dankeschön! https://ko-fi.com/vernunftgeheuer

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Urheberrechtshinweis: Für Intro und Outro werden die Sounds „Monster Roar“ von darkzanite und „Ambient Intro“ von Kelewin verwendet, beide unter einer Creative Commons Attribution License verfügbar.

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„Ich habe auf dieser Welt kein ausgesprocheneres Ungeheuer und Wunder gesehen als mich selbst.“ (Montaigne)

„Welche Chimäre ist doch der Mensch! Welch Unerhörtes, welch Ungeheuer, welch Chaos, welch widersprüchliches Wesen, welch Wunder!“ (Pascal)

„Der ist ein Ungeheuer, der nicht die liebt, die seinen Geist befruchtet haben.“ (Voltaire)

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ (Nietzsche)

Kommentare (8)

Björn Herzig

Hallo Michael! Das ist ja mal eine interessante Umkehrung der Perspektive! So habe ich das tatsächlich noch nie betrachtet: Polyphem als braver Inselbauer, Odysseus und seine Horde als ungeheuerliche Freibeuter des Mittelmeers ... Aber der Text gibt das durchaus her! Wirklich interessant, was eine suggestive Darstellung bewirken kann und welche Lesarten sich unter der vordergründigen verbergen. Das wäre ja eine Aufgabe: die Odyssee gegen den Strich lesen und aus diesem Blickwinkel neu schreiben ... Vielen Dank für den Hinweis! Das Buch werde ich mir auf jeden Fall besorgen.

Michael Kleu

Ich habe gerade ein paar Folgen am Stück gehört und bin mir nicht mehr ganz sicher, wo kurz Polyphem angesprochen wurde. Ich glaube, es war hier ;-) Bei Polyphem finde ich die Frage interessant, wer da eigentlich das Ungeheuer ist. Der "sesshafte Landwirt", der fleißig seinen Lebensunterhalt bestreitet, oder die Horde dahergelaufener griechischer Piraten, die ihm in seiner Abwesenheit die Bude leerräumen und dann sogar ultra frech noch ein Gastgeschenk von ihm fordern. Homer hat das an der Stelle wirklich clever gemacht, Polyphem - zumindest vordergründig - als den Bösen erscheinen zu lassen, obwohl er eigentlich das Opfer ist. Den Gedanken habe ich bei Raimund Schulz gelesen (Die Antike und das Meer) und finde ihn super spannend.

Björn Herzig

Hallo Nutt Los, vielen Dank für Dein ausführliches Feedback! Ja, die populäre Vermittlung von Bildungsinhalten ist bei uns Programm, und der Anschluss an die zeitgenössische Popkultur ergibt sich durch das Monsterthema einigermaßen zwanglos. Ich stimme Dir zu, dass man zur Interpretation der Entlastungsfunktion des Mythischen gerade die Gesellschaftswissenschaften noch stärker heranziehen könnte. Blumenbergs kulturgeschichtliche Perspektive ist doch recht einseitig an den intellektuellen Spitzenleistungen der europäischen Tradition (Klassiker der Hochliteratur etc.) orientiert. Dass sich eine derart ethno- bzw. soziologische Optik wiederum fruchtbar machen lässt, um die Ambivalenzen der Moderne aufzuzeigen und eine Sensibilität für den dialektischen Charakter der Aufklärung zu entwickeln (der nur allzu schnell wieder in Schrecken 'umschlagen' kann!), erscheint mir plausibel. In eine ähnliche Richtung denkt Blumenberg etwa in seiner "Legitimität der Neuzeit" (1966), welche die Moderne insofern als Erfolgsgeschichte präsentiert, als sie im Zuge der Säkularisierung eine Entängstigung des Menschen vom durch den dogmatischen Monotheismus neuerlich erstarkten Schrecken des christlichen Mittelalters leistet. Sicher kann seine Philosophie insgesamt als Reflex auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus - und damit, analog zu Platon und Hobbes: auf eine fundamentale Krisenerfahrung - gelesen werden (Blumenberg ist Jude und seine Eltern sind der systematischen Vernichtungspolitik des NS-Staates zum Opfer gefallen). Ein anderer Impuls, welcher die Ausbildung seiner Konzeption des Mythischen als Distanzierungsmechanismus vom Schrecken angesichts der absoluten Wirklichkeit begünstigt hat, ist die Aversion gegen Heideggers Ursprünglichkeitspathos. Die Bezeichnung "Philosophen der Angst" finde ich sehr treffend. Hobbes' biographischer Hintergrund war mir nicht so präsent, vielen Dank für den Hinweis und das Zitat! Ob Philosophie generell als Reflex auf persönlich-politische Krisenerfahrungen verstanden werden muss, würde ich bezweifeln, und dass ihre Antwortstrategien 'in sich verfehlt' sind, glaube ich nicht. Zumindest hoffe ich, dass sie immer auch Möglichkeiten an die Hand gibt, ihre Antworten von anderen, fadenscheinigeren Strategien im Umgang mit dem absolutistischen Schrecken zu unterscheiden. Vielen Dank für die Empfehlung. Wir freuen uns, wenn Du dem Podcast weiter folgst. Herzliche Grüße!

Nutt Los

Sehr schön, dass Ihr Blumenberg ein bisschen popularisiert und ihn mit seiner oft sehr anstrengenden "Bildungssprache" anschlussfähiger an die heutige Pop-Kultur macht! :D Bezogen auf die Ursprünglichkeit des Schreckens und den natürlichen, existentiell gegebenen menschlichen Beruhigungsbedarf (von dem Blumenberg im Grunde in allen seinen Büchern handelt, so lese zumindest ich ihn) finde ich mittlerweile Ethnologie, Geschichte und Soziologie sehr spannend: Wie gehen verschiedene Gemeinschaften und Gesellschaften gemeinsam damit um? - Also nicht: Der Einzelne oder der "Denker". Nicht das Individuum, sondern Kollektive. Wenn der menschliche Beruhigungsbedarf universell ist, wie sehen verschiedene "politische" Lösungen dafür aus, die Menschen im Lauf der Zeiten erfunden und gelebt haben? Von daher scheint mir eine konstruktive Kritik unserer eigenen aufklärerischen Tradition möglich, im Sinne von: Was haben wir im Prozess der Aufklärung vielleicht viel zu wenig beachtet, weswegen wir immer wieder auf's Neue zwischenmenschliche Schrecken heraufbeschwören und füreinander wechselseitig zu "Monstern" (= Verfolgern) werden? Es gab ganz offensichtlich menschliche Gesellschaften in der Geschichte, die mit dem existentiellen Schrecken des "In-der-Welt-Sein" und mit dem natürlichen menschlichen Beruhigungsbedarf realistischer und anerkennender umgegangen sind als wir es in der derzeitigen Variante der modernen Gesellschaft tun. Während das Gesellschaften waren, in denen die Menschen einander Beruhigung verschafften, leben wir in einer Gesellschaft in Angst, weil wir uns die Arbeit ersparen, diesen Schrecken kontinuierlich zu beruhigen und "wegzuarbeiten". Der Schrecken, von dem wir hier sprechen, hat also tatsächlich eine starke "politische Dimension", könnte auch überhaupt als DIE zentrale politische Kategorie verstanden werden. U.a. mit Hobbes, der einerseits zeigt, dass es keine Dummheit und keinen bösen Willen braucht, dass wir alle zu Monstern füreinander werden, und er andererseits den bemerkenswerten Satz gesagt hat: "Als meine Mutter mich gebahr, gebahr sie zwei Kinder: Mich und die Angst." Blumenberg und Hobbes eint jedenfalls, dass sie Philosophen der Angst sind, die beide auf sehr unterschiedliche Weise "mit existentiellem Schrecken" konfrontiert waren und darauf Antworten zu finden gesucht haben (Blumenberg mit dem Horror des Nationalsozialismus', Hobbes mit den Gräueln des englischen Bürgerkriegs). Ähnlich wie auch "unser politischer All-Vater" Platon, der ein Kind des 27 Jahre andauernden Peloponnesischen Krieges war, der mit erbarmungsloser Grausamkeit geführt wurde, was gerade von Philosophen viel zu wenig beachtet wird (für meinen Geschmack jedenfalls). Philosophie wäre dann überhaupt die Suche nach Antworten auf politische Krisenphänomene, möglicherweise aber eine in-sich-verfehlte, denn es gibt auch unphilosophische Antworten auf die gleichen Krisen. Antworten, die wirksamer (beruhigender) sind als alles, was Philosophie jemals aufbieten kann. - Soweit ich sehe, hat diese Möglichkeit gerade auch Blumenberg selber sein Leben lang beschäftig und beunruhigt. ;) So denkt Blumenberg selber nicht. Aber das muss uns heute ja nicht hindern, nicht "mit Blumenberg über Blumenberg hinaus" zu gehen. ¯\_(ツ)_/¯ Vielen Dank jedenfalls für den schönen Podcast und den produktiven Impuls! 🙏😊

Björn Herzig

Vielen Dank, das freut uns wirklich sehr! Genau diese Mischung streben wir an. Dein Hinweis auf die Monster bei Cthulhu ist sehr wertvoll. Lovecrafts Eldritch Horror scheint Blumenbergs Gedanken einer Distanzierung des Menschen vom ursprünglichen Schrecken angesichts der unvertrauten Wirklichkeit durch das Geschichtenerzählen - insbes. Geschichten von Ungeheuern, die überwunden werden - tatsächlich auf gewisse Weise entgegenzustehen. Hier scheint es eher um die Darstellung von Figuren zu gehen, die einen Blick hinter den Schleier der alltäglichen Lebenswelt auf das wahre Grauen werfen und diesem verfallen. Man könnte vielleicht fragen, ob nicht auch diese Darstellung noch eine entängstigende Funktion hat, insofern sie der unvertrauten Wirklichkeit ein ästhetisches (freilich monströses!) Gesicht verleiht. Die "Großen Alten" wären somit - ähnlich wie z. B. die Gorgo Medusa der antiken Mythologie - Gestalten im Grenzgebiet zwischen Schrecken und Poesie. In der nächsten Folge wird unser Gast zu diesem Thema einiges erzählen - Du darfst also gespannt sein! Ganz herzliche Grüße!

Stefan

Supertolle Episode! Interessant und anregend. Fundiert und dennoch nicht abgehoben. Gute Beispiele, die das Ganze noch illustrieren. Was das "Besiegen der Monster" betrifft, teile ich Eure Einschätzungen. Die meisten Rollenspiele sind darauf ausgelegt. Eine Ausnahme ist vielleicht Cthulhu - zumindest wie ich das Spiel kennengelernt habe. Da ging es oft nicht ums Besiegen eines wie auch immer gearteten Monsters, sondern "nur" ums Überleben bzw. das Nichtwahnsinnigwerden. Freu mich auf die nächste Episode!

Björn Herzig

Vielen herzlichen Dank! Die positive Resonanz freut uns sehr und ist eine schöne Motivation für weitere Folgen. Wirklich erstaunlich, wie man auf unterschiedlichen Wegen ganz ähnliche Ansichten entwickeln kann. "Vernunft, Mythos und Spiel" ist eine klangvolle Trias - und natürlich freut es mich persönlich, einen gleichgesinnten Blumenberg-Fan gefunden zu haben! Vielleicht ergibt sich (auf dem ein oder anderen Blog bzw. Podcast) ja mal eine Möglichkeit zum Gedankenaustausch über diese Themen. Die neurowissenschaftliche bzw. evolutionsbiologische Perspektive finde ich auch sehr interessant, obwohl meine Kenntnisse auf diesem Gebiet begrenzt sind (das ist eher Kathrins Terrain). Da muss ich wohl mal tiefer in der "Natur des Glaubens" stöbern ... Auf jeden Fall vielen Dank fürs Weiterempfehlen und -hören! Wir hoffen, die kommenden Folgen werden nicht enttäuschen. Herzliche Grüße und einen schönen Sommer!

Dr. Michael Blume

Vielen Dank für diesen klasse Podcast & diese Folge von einem Religionswissenschaftler, Wissenschaftsblogger (scilogs „Natur des Glaubens“) & ja, auch langjährigem PnP-RPG-DM. Wir haben, aus völlig unterschiedlichen Forschungseinrichtungen stammend & ganz unabhängig voneinander zu verblüffend ähnlichen Verhältnisbestimmungen von Vernunft, Mythos und Spiel, ja zum gleichen Hans Blumenberg gefunden! Gerne werde ich „ungeheuer vernünftig“ meinen Leserinnen und Lesern empfehlen und diesem im besten Sinne „monströsen“ Podcast weiter folgen. :-) Herzlichen Dank und alles Gute!

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