Folge 16: Monster in Mittelerde (Teil 1)

Shownotes

Passend zu „Ringe der Macht“, der neuen Fantasy-Serie auf Amazon Prime, wollen wir diesmal über einen Autor sprechen, der in unserem Podcast überraschenderweise bisher kaum erwähnt wurde: Die Rede ist von John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973), seinem Werk, seiner Welt und den Monstern, die sie bevölkern. Bei einem so ausgefuchsten Geschichtenerzähler wie Tolkien sind die Ungeheuer natürlich in einen umfassenden mythologischen Kontext eingebettet. Um sie angemessen zu begreifen, mussten wir uns daher zunächst den religiösen und philosophischen Hintergründen von Tolkiens Welt zuwenden. Dazu gab es so viel zu sagen, dass aus der geplanten Folge prompt eine Doppelfolge geworden ist!

Im ersten Teil soll es um die metaphysischen und kosmologischen Rahmenbedingungen gehen, welche die „inneren Gesetzmäßigkeiten“ von Arda bzw. Mittelerde bestimmen. Zum Einstieg plaudern wir über jugendliche Lektüreerlebnisse und unsere erste Begegnung mit Tolkiens Büchern. Danach wollen wir uns auf drei Aspekte konzentrieren, die für das Verständnis der Monster in Tolkiens Welt bedeutsam sind: Schöpfungsmythos und Weltentstehung, der Ursprung des Bösen sowie Menschenbild und Geschichtsverständnis. Dabei wollen wir zunächst jeweils Tolkiens eigene Auffassung referieren, wie sie im Kleinen Hobbit, dem Herrn der Ringe und anderen (von seinem Sohn Christopher aus dem Nachlass herausgegebenen) Werken wie dem Silmarillion zur Darstellung kommt. Anschließend werfen wir einige Seitenblicke auf entsprechende Ideen aus der europäischen Kulturgeschichte und schauen, welche Gedanken den Oxford-Professor bei seinem Weltenbau inspiriert haben. Aufschlussreich sind insbesondere die Spannungen, welche sich im Zuge dieser kreativen Anverwandlung ergeben: So machen sich in Tolkiens Erzählungen zwei verschiedene Konzeptionen des Bösen bemerkbar, die auch das Wesen der Monster in Mittelerde fundamental prägen.

Dass die Verschränkung von Heidentum und Christentum am Kern seines Verständnisses von Phantastik liegt, zeigt Tolkien in seinem berühmten Aufsatz „On Fairy-Stories“ („Über Märchen“), auf den wir gegen Ende zu sprechen kommen. Tolkien erweist sich hier als frommer Katholik: Sinn und Zweck aller Mythen und Märchen ist nicht die Erfüllung eskapistischer Wünsche, die unverbindliche Flucht in ein glückseliges Woanders, sondern die sogenannte ,Eukatastrophe‘, die Freude über den unverhofften, glücklichen Ausgang einer Geschichte. In diesem Sinne vermitteln phantastische Erzählungen dieselbe Frohe Botschaft wie das Neue Testament.

Im zweiten Teil unserer Doppelfolge werden wir uns dann konkret verschiedenen Arten von Monstern bei Tolkien widmen - Orks, Spinnen, Drachen, Balrogs, Ringgeistern und den namenlosen Wesen aus der Tiefe - und sie vor dem Hintergrund der so beschriebenen Weltkonzeption untersuchen. Viel Spaß beim Hören!

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Kapitelmarken:

00:00:00 Der Olifant im Raum

00:02:00 Tolkien und wir

00:08:08 Zum Ablauf

00:09:40 Schöpfungsmythos & Weltentstehung

00:26:57 Ursprung des Bösen

00:43:46 Menschenbild & Geschichtsverständnis

00:56:14 Phantastik als Frohe Botschaft

01:01:22 … und wo bleiben die Monster!?

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Literatur- und Videoempfehlungen:

Blume, Michael: „Die Mythentheorie J.R.R. Tolkiens zwischen Christentum und Fantasy“: https://www.youtube.com/watch?v=cw3r_GT8KJs

Kleu, Michael: „Atlantis und Númenor - Antikenrezeption bei J.R.R. Tolkien“: https://fantastischeantike.de/atlantis-und-numenor-antikenrezeption-bei-j-r-r-tolkien/

Shippey, T.A.: J.R.R. Tolkien. Author of the Century, New York: Houghton Mifflin 2000.

Tolkien, J.R.R.: „Über Märchen“ [1939], in: ders.: Gute Drachen sind rar. Drei Aufsätze, hg. v. Christopher Tolkien, übers. v. Wolfgang Krege, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, 51-140.

Tolkien, J.R.R.: Natur und Wesen von Mittelerde, hg. v. Carl F. Hostetter, übers. v. Helmut W. Pesch u. Susanne Held, Stuttgart: Klett-Cotta 2021.

BBC-Interview mit Tolkien [1962, Ausschnitt]: https://www.youtube.com/watch?v=bi8q1Eopk2U&t=83s

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Urheberrechtshinweis: Für Intro und Outro werden die Sounds „Monster Roar“ von darkzanite und „Ambient Intro“ von Kelewin verwendet, beide unter einer Creative Commons Attribution License verfügbar.

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„Ich habe auf dieser Welt kein ausgesprocheneres Ungeheuer und Wunder gesehen als mich selbst.“ (Montaigne)

„Welche Chimäre ist doch der Mensch! Welch Unerhörtes, welch Ungeheuer, welch Chaos, welch widersprüchliches Wesen, welch Wunder!“ (Pascal)

„Der ist ein Ungeheuer, der nicht die liebt, die seinen Geist befruchtet haben.“ (Voltaire)

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ (Nietzsche)

Kommentare (4)

Björn Herzig

Wow! Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar, lieber Michael - und sorry für die späte Antwort! Was Du von Deinen jugendlichem Leseerfahrungen erzählst, kann ich sehr gut nachvollziehen: Bei mir war es so, dass ich den "Herrn der Ringe" mit 14 entdeckt habe, etwa anderthalb Jahre, nachdem ich mit Rollenspielen (zuerst Shadowrun, später MERS, DSA und schließlich ein eigenes System) angefangen hatte. Von daher haben sich Tolkiens Werke und Fantasy-Rollenspiele in meiner Jugend tatsächlich wunderbar ergänzt. Dir wäre es bestimmt ähnlich gegangen! Ich kann gut nachempfinden, dass Dir der Einstieg mit 12 etwas langweilig vorkam - fand ihn damals auch etwas zäh. Das zweite Kapitel hat mich dann gepackt, und spätestens als Frodo und seine Gefährten aus dem Auenland aufbrechen, war ich voll dabei. Bei all den klugen Ratschlägen für angehende Autor:innen auf Blogs und YouTube finde ich es manchmal verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass der berühmteste Fantasy-Roman aller Zeiten mit einem 30 Seiten langen Vortrag über Hobbits und Pfeifenkraut beginnt - das würde heute sich kein:e Lektor:in so durchwinken! Lustig, dass Du Stephen Kings "Es" auch in dem zarten Alter gelesen hast! In gewisser Weise ist die Furcht, nach solcher Lektüre im Dunklen einzuschlafen, ja eine gute Motivation, um sich am Lesen zu halten. Wenn das nur bei allen Büchern so klappen würde ... Großen Dank natürlich für den Hinweis auf Deinen Aufsatz zu Tolkiens Númenor und Platons Atlantis! Habe ihn auf Deinem Blog überflogen und werde ihn mir die nächsten Tage in Ruhe durchlesen. Wirklich ein äußerst spannendes Thema (und überhaupt ein toller Sammelband)! Würde Dir intuitiv sofort zustimmen, dass Platons Dialoge vielleicht Anregungen geboten haben, eigentlich aber die post-platonische Rezeption des Atlantis-Mythos für Tolkiens Gestaltung von Númenor bestimmend ist. Diesen Ignatius Donnelly kannte ich bisher gar nicht - muss ihn mir mal näher anschauen ... Was das Verhältnis von Neuplatonismus und Patristik angeht: Genau, auch wenn beide Strömungen aus spätantiker Sicht in Konkurrenz zueinander standen, hat das frühe Christentum viel neuplatonisches Gedankengut aufgesogen und sich anverwandelt. Die Ironie der Rezeptionsgeschichte besteht somit darin, dass der Neuplatonismus zwar vom Christentum überwunden wurde, das Christentum im Zuge dieser Überwindung aber selbst immer stärker zu einer neuplatonisch geprägten Religion wurde (Jens Halfwassen, mein früherer Philosophieprofessor aus Heidelberg, beschreibt das in seiner Einführung zu Plotin). Diese Assimilation war geleitet von dem strategischen Interesse, die biblischen Geschichten begrifflich zu legitimieren und mit einem kohärenten Gedankensystem zu überformen, das es mit der Gnosis aufnehmen konnte (so die Interpretation Hans Blumenbergs in "Legitimität der Neuzeit"). Insofern die Patristik zentrale Ideen des (Neu-)Platonismus aufgenommen und in die christliche Tradition eingespeist hat, wird verständlich, dass Tolkien, als frommer Katholik, unwillkürlich beides gemeinsam rezipiert hat. Finde es wirklich interessant, diesen Einflüssen über Jahrtausende hinweg nachzuspüren - wer weiß, was da noch ans Tageslicht kommt? Vielen Dank für das Lob und die Motivation! Wir wünschen Dir weiter viel Spaß beim Hören! Hoffentlich gefallen Dir der zweite und dritte Teil auch - dann geht es tatsächlich um die Monster in Mittelerde! Liebe Grüße!

Michael Kleu

Und, ganz vergessen: Super tolle Folge natürlich und ich freue mich sehr auf die Fortsetzungen ;-)

Michael Kleu

Das mal zum Thema "Podcasts kommentieren, bevor man fertig ist mit hören": Es kommt ja noch alles super ausführlich mit Neoplatonismus etc. ;-) Übrigens habe ich oben vergessen zu erwähnen, dass ich den Herrn der Ringe dann endlich nachgeholt habe, als die Filme in die Kinos kamen. 23 müsste ich da gewesen sein. Da habe ich die Bücher dann aber wirklich verschlungen. Es war mir wichtig, den ersten Teil erst zu lesen und dann zu sehen. Natürlich habe ich Teil 2 und 3 dann in einem Rutsch hinterhergelesen. Das mit den Menschen und der Sterblichkeit habe ich ein bisschen anders in Erinnerung. Ich glaube - ich habe es jetzt nicht nachgesehen -, dass die Sterblichkeit bei den Menschen von Anfang an vorgesehen ist und nicht als eine "Bestrafung" für ein Vergehen, sondern eher als eine Gnade zu verstehen ist. Was die Veränderung der Welt angeht, vollzieht sich eine nach dem Untergang von Númenor. Nicht nur, dass mit dem Untergang sozusagen das mythische Zeitalter endet und wir in den Bereich der "realen" Geschichte wechseln: die Erde wird auf einmal rund! Ich bekomme es gerade nicht mehr ganz zusammen, aber das habe ich im oben verlinkten Aufsatz besprochen.

Michael Kleu

Ich glaube, diesmal muss ich in Etappen schreiben ;-) 1. Ich habe den Herrn der Ringe so mit etwa 12 mal zu lesen versucht, bin dann aber daran gescheitert, dass vor Bilbos Party die einzelnen Verwandten oder Familien duchgegangen werden. Das war mir zu langweilig. Das ärgert mich heute kolossal. Hätte ich mal ein paar Seiten weitergelesen, hätte das Buch sicherlich meine Teenagerzeit auf das Tiefste geprägt. Ein Freund hatte mir das Buch ausgeliehen. Vielleicht hätte der mir besser erst einmal den Hobbit gegeben. Schließlich habe ich zur selben Zeit angefangen DSA zu spielen, was ich so intensiv getan habe, dass ich teilweise täglich gespielt habe. Da hätte der Herr der Ringe eigentlich genau mein Ding sein müssen. Übrigens war "Es" auch bei mir ein Buch, das ich viel zu früh gelesen habe. Das war in den Sommerferien und ich erinnere mich gut, dass ich immer bin 6 oder 7 Uhr morgens lesen musste, weil ich definitiv nicht im Dunkeln einschlafen wollte ;-) 2.) Ich habe einen Aufsatz über die Atlantis-Rezeption bei Tolkien geschrieben, der mittlerweile frei zugänglich ist. Die Atlantis-Geschichte kommt ja in den Dialogen "Kritias" und "Timaios" vor und ich hatte den Eindruck, dass da allgemein einiges an (neo)platonischem Gedankengut zu finden ist. Das war nicht das Hauptthema meiner Untersuchung, aber ich habe es am Ende noch irgendwo reingequetscht: https://fantastischeantike.de/atlantis-und-numenor-antikenrezeption-bei-j-r-r-tolkien/ In der Spätantike waren der Neoplatonismus und das Christentum ja einerseits Richtungen, die sich etwas misstrauisch gegenüberstanden, andererseits waren aber eben auch viele Menschen gleichzeitig von beiden Strömungen geprägt, sodass gelegentlich gesagt wird, dass Christentum und Neoplatonismus womöglich mehr gemeinsam haben als Julian Apostata, Gregor von Nazianz und anderen damaligen Streithähnen recht gewesen sein dürfte ;-) Was ich damit sagen möchte: Es liegt womöglich in der Natur der Sache, dass Tolkien gleichzeitig (neo)platonische und christliche Gedanken rezipiert.

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